AUS DEN ANNALEN DES ZÜRCHER HAUPTBAHNHOFS

Quelle: Werner Neuhaus, Separatdruck «Zürichsee-Zeitung», 1999, Th. Gut+Co. Verlag, 8712 Stäfa, zusätzliche Bilder LZB


0 Der Zugang zum ersten Bahnhof war keineswegs so komfortabel wie heute: Wie auf der Aquatinta von Johann Baptist Isenring zu sehen ist, hatten die Postkutschen eine enge Brücke über den damals noch hier durchgeleiteten Schanzengraben zu überqueren, während die Fussgänger auf einem hölzernen «langen Steg» über die Limmat dem Bahnhof zustrebten.


Inhaltsverzeichnis

Die Spanisch-Brötli-Bahn hält Einzug
Schildwache vor dem Eisenbahntor
Wohin mit dem neuen Bahnhof?
Wie die Spanisch-Brötli-Bahn zu ihrem Namen gekommen ist
Dreimalige Glockenzeichen
Wer den heutigen HB entworfen hat
Ausbaupläne für den Hauptbahnhof
«Zusammengenähtes» Projekt
Der Neubau kann beginnen
Neue Eisenbahnlinien
«Traurigste Erscheinungen»
100 Jahre Durchgangsbahnhof-Diskussion
Durchgangsbahnhof bereits 1895 geplant
Vision: Bahnhof westlich der Langstrasse
Der Stadtrat lehnt einen Durchgangsbahnhof ab
Sihlverlegung
Umbau nach den braven Plänen der NOB
Separate Billettschalter für die noblere Kundschaft
Abstimmung führte zur Bildung der SBB
Prominente Besucher im Zürcher Hauptbahnhof
Der Hauptbahnhof rüstet sich für die Landi
Die SBB planten schon 1916 zwei «Nebenwil»-Bahnhöfe
Die Landi bringt Schwung
Eine «Seufzerbrücke» quer über die Geleise
Das gemütliche «Bahnhofstübli»
Der HB wird aufs S-Bahn-Zeitalter getrimmt
Fussgänger auf dem Bahnhofplatz in den Untergrund verwiesen
Ideenwettbewerb und Projekte für einen Bahnhof-Neubau
Die Idee einer U-Bahn wird 1973 begraben
Taktfahrplan: Die «Zürcher Spinne» entsteht
Umsteigen erleichtert
Die S-Bahn Zürich startet am 27. Mai 1990
Gewagte Perrondächer als «Gesicht» zur Stadt
Rund 20 Bauprojekte


Die Spanisch-Brötli-Bahn hält Einzug

In der Schweiz konnten die Postkutschenkurse jahrzehntelang ohne jegliche Konkurrenz verkehren, doch behinderten offenbar die kantonal geregelten Fahrpläne die Reisen über länger Distanzen. Dazu kam, das die erhobenen Fahrpreise lange nicht für jedermann erschwinglich waren. Bereits 1836, als man in der Schweiz kaum über Eisenbahnen diskutierte, erteilte die Zürcher Kaufmannschaft (Handelskammer) dem aus dem Südtirol stammenden Ingenieur Alois von Negrelli (1799–1858) den Auftrag, eine Bahnlinie von Basel über Zürich zum Bodensee zu projektieren. Der Zürcher Bahnhof sollte im neuen Stadtzentrum am heutigen Paradeplatz liegen.


1 «Vue de Zurich avec le chemin de fer» ist diese hübsche Aquatinta von Lukas Weber (1811–ca. 1860) überschrieben. Eben fährt ein Zug der Spanisch-Brötli-Bahn in den von einem Zaun umschlossenen Zürcher Bahnhof ein, während in der Bahnhofshalle ein weiterer Zug startbereit ist.

Am 19. Januar 1842 legte sodann Ferdinand Stadler (1813–1870) der Zürcher Sektion des Schweizerischen Ingenieurs- und Architektenvereins (SIA) ein Bahnhofprojekt für Zürich vor. Bekannt ist von diesem nur so viel, dass an das Abfahrtsgebäude eine hölzerne Bahnhalle ähnlich jener im Frankfurter Bahnhof der Taunusbahn gebaut werden sollte.

Schildwache vor dem Eisenbahntor

Am 15. Juni 1844 drang dann erstmals von Strassburg her ein Eisenbahnzug bis in die Schweiz vor. Bei der Betriebseröffnung bestand in Basel lediglich ein provisorischer Bahnhof nahe dem St.-Johanns-Tor, da der erste Bahnhof innerhalb der noch bestehenden Stadtmauern intra muros erst Ende 1845 auf dem Schellenmätteli eröffnet werden konnte. Man errichtete aber ein spezielles Eisenbahntor, das jede Nacht mit einem Gitter verschlossen und von einer Schildwache kontrolliert wurde. Dennoch wurde Basel vorgeworfen, ein trojanisches Pferd in seine Mauern eingelassen zu haben und darüber seine eidgenössische Verteidigungsfunktion zu vernachlässigen. Gut drei Jahre später, am 9. August 1847, konnte nach einer Bauzeit von nur 17 Monaten die Spanisch-Brötli-Bahn zwischen Zürich und Baden in Betrieb genommen werden.


2 Recht einfach war die Gleisanlage im Hauptbahnhof anno 1847: Damals genügten fünf Geleise für den noch nicht eben dichten Zugverkehr.

Wohin mit dem neuen Bahnhof?

Wo sollte aber nun der neue Bahnhof für die Spanisch-Brötli-Bahn seinen Platz finden? Die Kantonsregierung stellte Land im alten Schanzengürtel Zürichs im Baurecht zur Verfügung, denn dieses Gebiet gehörte seit 1833 dem Kanton und wurde von ihm für seine Bauten genutzt (Kantonsschule, Kaserne am Basteiplatz, erste Universität). So erhielt die Bahn für ihre Zwecke die Sihlwiese, ein Stück des alten Schützenplatzes zwischen Limmat und Sihl, zugewiesen.
Die Direktion der Nordbahngesellschaft übertrug am 31. März 1846 den Bau des Stationsgebäudes Gustav Albert Wegmann (1812–1858). Als Assistenten standen ihm die Baumeister Leuzinger und Locher zur Seite. Für die ersten Jahre mussten fünf Geleise genügen; das Stationsgebäude bestand weitgehend aus Holz. Damit die Lokomotiven der eingefahrenen Züge samt Tender wieder rechtsumkehrt machen konnten, war auf der Limmatseite, ausserhalb des Bahnhofs, eine Drehscheibe von 34 Fuss Durchmesser eingebaut.
Der erste Zürcher Bahnhof sollte nicht bloss dem Verkehr nach Baden dienen, sondern wurde bereits als Zentralpunkt eines späteren Liniennetzes geplant. Wie alle damaligen Anlagen war das ganze Areal von einem Zaun umschlossen, und dieser Tatsache verdanken wir die heute noch übliche Bezeichnung «Bahn-Hof». Auf die Eröffnung der Linie Zürich–Baden am 9. August 1847 waren alle Bauarbeiten beendigt.


3 Der ab 9. August 1847 geltende Fahrplan der Spanisch-Brötli-Bahn wies vier Züge pro Richtung auf.

Die Gegend des Bahnhofs war nur auf engen Wegen im Industriequartier oder um die Stadt herum durch die Sihlporte erreichbar. Schon bald nach der Eröffnung der Bahnlinie wurden die erschwerte Zugänglichkeit des Standorts und die kleinen Dimensionen des Bahnhofs zum Problem.
Verbesserungen der Verkehrslage schienen kaum anders als durch eine Verlegung des Bahnhofs an den heutigen Paradeplatz oder ans Seeufer im Quartier Enge möglich. Aus finanziellen Erwägungen hat man damals (glücklicherweise) davon abgesehen. Im Verlauf einer gross angelegten Stadtsanierung zwischen 1861 und 1863 wurde auf der Höhe des Bahnhofs eine befahrbare Brücke über die Limmat gebaut.
Die Stadt Zürich erlebte einen schnellen Aufschwung indem sich die Einwohnerzahl innert dreier Jahrzehnte von 40 000 auf 70 000 Einwohner fast verdoppelte. Nun war die Zeit gekommen, um die längst unnütz gewordene Schanzen zu schleifen und damit für neue Strassen und Quartiere Platz zu schaffen. So entstand ein eigentliches neues Bahnhofsquartier. Der frühere Fröschengraben wurde zugeschüttet; darüber befindet sich seither die Bahnhofstrasse.

Wie die Spanisch-Brötli-Bahn zu ihrem Namen gekommen ist

Wie ist eigentlich die Bahnstrecke Zürich–Baden zum Übernamen Spanisch-Brötli-Bahn gekommen? Die berühmten Spanischen Brötli galten als überaus schmackhafte und knusprige Spezialität der Bäderstadt und waren sonst in der ganzen Schweiz nirgends erhältlich. Schon Ende des 18. Jahrhunderts war es in Züricher Herrschaftshäusern Brauch, bei hohem Besuch zum Frühstück Spanische Brötli zu servieren. Das bedeutete für die Dienstboten eine frühe Tagwacht, denn das köstliche Gebäck musst in Baden frühmorgens um 4 Uhr ofenfrisch in Empfang genommen und dann zu Fuss nach Zürich gebracht werden.
Die Eröffnung der Bahnstrecke Zürich–Baden vereinfachte die Sache mit den Spanischen Brötli schlagartig: Die noch ofenwarmen Brötchen konnten bequem dem ersten Frühzug nach Zürich mitgegeben werden, was von den Dienstboten – wie auch von den hohen Zürcher Familien – mit Erleichterung aufgenommen wurde. Viel Zürcher fuhren aber wegen des besonderen Gebäcks selber nach Baden zum Zvieri, und die Bahnlinie war elegant zu einem einprägsamen Übernamen gekommen. Doch nicht nur die Spanischen Brötli wurden mitgeführt, beschaffte doch die Eisenbahngesellschaft folgende Eisenbahnwagen: 28 Personenwagen mit Sitzen, 2 Stehwagen. 3 Equipagenwagen, 2 Viehwagen, 1 Güterwagen, 3 Gepäckwagen und 1 Wagen für den Steinkohlentransport.

Dreimalige Glockenzeichen

Gerade Hochbetrieb herrschte in den ersten Jahren der bis 1861 noch einspurig angelegten Spanisch-Brötli-Bahn allerdings noch nicht: Die vier täglich verkehrenden Züge nach Baden (mit einer Fahrzeit von 45 bis 50 Minuten) verliessen den Zürcher Hauptbahnhof am Vormittag um 7.30 und um 10 Uhr sowie am Nachmittag um 2 und 6 Uhr (wer hat da war von Taktfahrplan gesagt?). Ein Spezialzug wurde an Sonn- und Feiertagen bei günstiger Witterung am Nachmittag um 1.30 Uhr eingelegt.


4 Dank dieser auf der Limmatseite angebrachten Drehscheibe konnte die Lokomotiven wieder rechtsumkehrt machen. Im Hintergrund sind die 1861 bis 1863 erbaute Bahnhofsbrücke sowie das neue Polytechnikum zu sehen.

Dennoch wird wohl mein Ururgrossvater, der als ehemaliger im Limmattal ansässiger Fuhrmann rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkannt hatte und flugs zur konkurrierenden Eisenbahn gewechselt hatte, als Kondukteur der Spanisch-Brötli-Bahn eine recht strenge Beschäftigung gewählt haben. Denn wie in der «Signal-Ordnung der schweizerischen Nordbahn» von Juni 1847 zu lesen ist, war damals die Zugabfahrt keine einfache Angelegenheit: «Auf jeder Endstation und auf Zwischenstationen, auf welchen ein längerer Aufenthalt gestattet ist, wird 10 Minuten vor der Abfahrt eines Zuges ein, 5 Minuten vor derselben zwei, und unmittelbar vor der Abfahrt drei Glockenzeichen gegeben. Das erste Glockenzeichen dient dem Lokomotivführer als Zeichen, dass die Lokomotive in Bereitschaft zu halten ist, um vor den Zug gestellt zu werden, und den Condukteuren auf Abgangsstationen, das die Wartsäle nach der Einsteighalle, sowie die Wagentüren zu öffnen sind. Bei dem zweiten Glockenzeichen soll die Lokomotive angespannt werden, sowie die Condukteure die Reisenden anzuhalten haben, in die Wagen zu steigen.


Wer den heutigen HB entworfen hat

1852 hatten sich die Nordbahn und die Zürich-Bodensee-Gesellschaft zur Schweizerischen Nordostbahn (NOB) zusammengeschlossen. Bis 1856 war Zürich bereits mit Winterthur (und von dort weiter bis Romanshorn sowie St. Gallen–Rorschach). Uster und Baden–Brugg verbunden.


5 In diese mit sechs Geleisen versehene imposante Bahnhofhalle fuhren damals die von Dampflokomotiven gezogenen Züge hinein, um ihre Passagiere unter Dach aussteigen zu lassen.


Wie dem im November 1857 von David Bürkli herausgegebenen «Reise-Begleiter» (Preis. 30 Centimes) zu entnehmen ist, konnte man damals von Zürich aus mit der Eisenbahn nach Brugg, Romanshorn, Schaffhausen, Uster–Wetzikon und St. Gallen–Rorschach–Rheineck reisen, doch sorgten Postkutschenkurse für Anschlüsse in entferntere Destinationen des In- und Auslands. Wer beispielsweise von Zürich aus Richtung Westschweiz gelangen wollte, konnte zwar die Nordostbahn (NOB) bis Brugg benützen, musste dann aber in die Postkutsche umsteigen. Erst in Aarau begann das «Reich» der Schweizerischen Centralbahn (SCB), welche die Strecke Aarau–Herzogenbuchsee–Bern und Herzogenbuchsee–Biel betrieb. Wer in Biel angelangt war, bestieg dort das Schiff bis Yverdon, woe die Quest Suisse (OS) ihre Züge nach Lausanne–Morges abfahren liess. Und dort gings wieder mit dem Schiff weiter bis Genf.

Ausbaupläne für den Hauptbahnhof

Da der Bahnhof wegen neu geplanten Bahnlinien bald aus allen Nähten zu platzen drohte, beschloss 1860 die Direktion der Nordostbahn unter ihrem Präsidenten Alfred Escher (1818–1882) einen Projektwettbewerb für ein neues Bahnhofsgebäude auszuschreiben. Anscheinend ohne Erfolg, denn bald darauf wurden vier führende Architekten darunter Gottfried Semper (1803–1879) – seit 1855 Professor am Eidgenössischen Polytechnikum (spätere ETH) und Erbauer dieses Polytechnikums sowie des Dresdener Opernhauses – separat eingeladen, ihre Pläne für neue Hochbauten einzureichen. Für die Ablieferung der Pläne setzte die NOB-Direktion ein Honorar von 2500 Franken fest, «in der Meinung, dass für denjenigen Plan, welcher der Ausführung zu Grunde liegt, eine Gratifikation zu geben sei». Gottfried Semper wählte den Typ des Kopfbahnhofs mit seitlich angeordneten Dienstgebäuden. Das weit gespannte Dach über der Gleishalle sollte von gewölbten eisernen Sichelträgern gehalten, sein Druck auf wenige starke Stützpfeiler abgeleitet und das Licht nicht senkrecht, sondern durch hochliegende, halbkreisförmige Seitenfenster eingeführt werden. Angemessenes Vorbild für diese neue Bauaufgabe schienen ihm die Thermen und Basiliken in Rom der Kaiserzeit zu sein.


6 Das nach den Plänen von Jakob Friedrich Wanner erbaute Bahnhofsgebäude mit einem idyllischen Bahnhofplatz; das anno 1889 errichtete Escher-Denkmal fehlte damals noch.

«Zusammengenähtes» Projekt

Jakob Friedrich Wanner (1830–1903), anfänglich Zeichner, dann für kurze Zeit Stadtbaumeister, ab 1857 Chefarchitekt der Nordostbahn, studierte die Ergebnisse des eingeladenen Wettbewerbs von 1861 und entwarf darauf ein eigenes Projektsamt Kostenberechnung. Für den zentralen Teil der Limmat-Fassade sah er eine doppelstöckige Loggia mit Arkadenreigen und Attika zwischen kräftigen Eckrisaliten vor. 1863 prüfte die Bahndirektion alle Pläne, empfahl Wanners Vorschlag zur Überarbeitung und schickte ihn mehrmals auf Studienreisen, vor allem nach Frankreich und Belgien.


7 Blick über die anno 1861–1863 erstellte Bahnhofsbrücke auf die Limmat-Fassade des Bahnhofs; in der Mitte der Fassade ist die Kilometer-Null-Säule zu erkennen.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es offenbar üblich, dass der Architekt das Kleid für seinen Bau aus Formen verschiedener historischer Stile «zusammennähte». So brachte Wanner alle Vorschläge von 1861 in ein Projekt ein: In der Disposition des Grundrisses, wie in der Gestaltung der Halle mit ihren längsseitigen Thermenfenstern, folgte er Semper.
Die Limmatfassade mit den zwei Halbkreisfenstern spiegelt das damals berühmteste, im genannten Wettbewerb von Johann Jakob Breitinger (1814–1880) aufgenommene Vorbild, nämlich die 1847–1852 erbaute «Gare de l’Est» in Paris. Der Haupteingang am Bahnhofplatz, das mächtige Triumpfbogenportal, war bei der Baueingabe nicht ausgereift, der krönende Aufbau mit den Allegorien kam später dazu.

Der Neubau kann beginnen

Nach dem zustimmenden Beschluss des Verwaltungsrats begannen 1865 die Bauarbeiten an den Mauern der neuen Bahnhofshalle, während der Bahnbetrieb in einem Provisorium an der damaligen Kornhausstrasse weitergeführt wurde. Es folgten Stuckatur- und Schmuckarbeiten. Nach sechsjähriger Bauzeit stand der Neubau mit der 43 Meter breiten und 169 Meter langen imposanten Bahnhofshalle. Das grosse Tor Richtung Bahnhofstrasse sollte Zürichs Öffnung zur Welt symbolisieren. Am 15. Oktober 1871 konnte der neue Bahnhof mit sechs Hallengeleisen dem Betrieb übergeben werden.
Ein spezielles Denkmal befindet sich noch heute an der Limmatfassade der grossen Halle, nämlich die vergoldete «Kilometer-Null-Säule» des Nordostbahnnetzes. Hier wollte sich die Bahnleitung auf römische und barocke Gepflogenheiten beziehen. Antikes Vorbild war nämlich der «goldene Meilenstein» (Millarium aureum) in Rom, auf dem Kaiser Augustus auf vergoldeter Bronze die wichtigsten Strassenverbindungen und Entfernungen ab Stadtgrenze festhalten liess.

Neue Eisenbahnlinien

Doch das Gebäude kam nicht zur Ruhe, denn in raschem Tempo wurden neue Zufahrtstrecken zu damaligen «Nordostbahnhof» erstellt: 1875 kam die «Linksufrige» der NOB hinzu welche den bisher über Uster fahrenden Zügen Richtung Ziegelbrücke–Näfels eine willkommene Abkürzung bot. Da die Seelinie im Besitz der NOB war, jene via Uster aber den Vereinigten Schweizer-Bahnen (VSB) gehörte, wurden noch bis zur Bildung der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) im Jahr 1902 viele direkte Schnellzüge weiterhin über Uster–Rapperswil geführt. Im damals noch von der Stadt unabhängigen Aussersihl (die Eingemeindung erfolgte erst auf den 1. Januar 1893) wies das Bahntrasse noch jahrelang zahlreiche Barrieren auf, bis anno 1927 die Tieferlegung der Strecke erfolgen konnte. 188 lockte die in Zürich stattfindende Landesausstellung viele Reisende an, die nicht nur zur Ausstellung pilgerten, sondern auch die Umgebung der Stadt erkunden wollten.


8 Nach den Plänen des Zürcher Kantonsingenieurs Kaspar Wetli aus Männedorf hätte 1871 die rechtsufrige Zürichseelinie einen Bahnhof an der Stelle des heutigen Opernhauses erhalten und wäre dann über eine Limmatbrücke und das Enge-Quartier in den Hauptbahnhof geleitet worden.

«Traurigste Erscheinungen»

Immer noch gaben die verschiedenen Privatbahngesellschaften den Ton an, doch geisselte beispielsweise Bundesrat Emil Welti 1887 im Nationalrat die damaligen Zustände mit folgenden Worten: «Die schweizerischen Eisenbahnen gehören zu den traurigsten Erscheinungen im schweizerischen Wirtschaftsleben. Sie sind Privatunternehmen und sollten doch öffentlich Interessen dienen. Die Schuld liegt in der Organisation des Privatbaus. Der Bund hätte vielleicht nicht so viele Eisenbahnen gebaut, aber die Interessen des Landes besser gewahrt.»
Noch im alten Jahrhundert erfuhr auch der Bahnhofplatz (auf dem zu jener Zeit das Rösslitram vorherrschte) eine Umgestaltung: 1889 wurde zu Ehren von Alfred Escher ein Denkmal in anderthalbfacher Lebensgrösse errichtet, um seine Verdienste als Bankier, Initiant und Bahndirektor, Nationalrat und Regierungsrat zu würdigen.
Mit der ersten Eingemeindung 1893 wuchs die Einwohnerzahl schlagartig von 28 099 auf 121 057, während sich die Fläche um den Faktor 26 vergrösserte: Zürich war nun erste Grossstadt der Schweiz geworden.


100 Jahre Durchgangsbahnhof-Diskussion

1894 beanspruchte auch die am rechten Ufer (endlich) fertiggestellte Eisenbahn eine Zufahrt bis Zürich, aber die bisher von Oerlikon einfahrende Linie mit dem Damm im Bereich der heutigen Röntgenstrasse verhinderte dies vorläufig. Erst eine neue Linienführung mit Eisenviadukten ermöglichte es, die Rechtsufrige ab Stadelhofen über Letten in elegantem Bogen nach Zürich zu führen.
Bevor nun an den Ausbau des Bahnhofs an der besehenden Lage gegangen wurde, setzte die heute noch nicht vollständig zur Ruhe gekommene Diskussion um einen Durchgangsbahnhof ein.

Durchgangsbahnhof bereits 1895 geplant

Wie ein Referat von Oberingenieur A. Dubler anlässlich einer Konferenz der SBB mit dem Zürcher Regierungs- und Stadtrat vom 24. April 1945 zu entnehmen ist, stammt der erste Vorschlag für einen Durchgangsbahnhof tatsächlich bereits aus dem Jahre 1895. Verfasst wurde er von «Kontrollingenieur» Glauser, der im Schweizerischen Eisenbahndepartement in Bern seine Idee entwickelte, die Strecke nach Oerlikon in einem eleganten Bogen zunächst Richtung Central und dann durch einen Tunnel bis in die Gegend des Milchbuck zu leiten.


9 Der Bahnhofplatz wird anno 1920 bereits von den elektrischen Trams und den bereitstehenden Mietdroschken in Beschlag genommen. Doch die Fussgänger können den Platz noch nach Lust und Laune überqueren.

Vision: Bahnhof westlich der Langstrasse

Ein Jahr später präsentierte Heinrich Ernst die Vision eines neuen Bahnhofs westlich der Langstrasse, in der Flucht der bestehenden Bahnhofsanlage. Heinrich Ernst war einer der bedeutendsten und initiativsten Züricher Architekten des späten 19. Jahrhunderts, Semper-Schüler, Erbauer des Roten Schlosses und der «Prachtzeile» an der unteren Rämistrasse. Er stellte den traditionellen Umbauplänen der Nordostbahn (NOB) ein Projekt für einen Tiefbahnhof in Aussersihl entgegen. Es wäre von höchster städtebaulicher Bedeutung gewesen und hätte zahlreiche Anliegen der heutigen S-Bahn und der City-Planung um hundert Jahre vorweggenommen:
- die Erweiterung des Hauptbahnhofs zum tiefliegenden Durchgangsbahnhof, in den die rechte und linke Seeuferlinie von Osten her unterirdisch eingemündet hätten.
- die Möglichkeit, später das Vorbahnhofsareal durch eine Absenkung der Geleise zu überdecken, was eine Verbindung der Stadtkreise 4 und 5 ermöglicht hätte, und
- die Vergrösserung der City um ein erneuertes Bahnhofquartier zwischen Langstrasse und Sihl, samt den notwendigen Erschliessungsbahnhöfen Sihl und Central.

Der Stadtrat lehnt einen Durchgangsbahnhof ab

Der Stadtrat würdigte zwar die grossartige und weitsichtige Zukunftsplanung und liess sie eingehend prüfen. Mit Zustimmung des Züricher Ingenieur- und Architektenvereins beschloss er aber im November 1896, das Projekt nicht weiter zu verfolgen, vor allem weil die zweifache Flussuntertunnelung technisch sehr aufwändig schien, der neue Bahnhof zu weit vom Stadtzentrum entfernt gewesen wäre und die Kosten jene der Umbaupläne von NOB und Stadt um mehr als 10 Millionen Franken überstiegen hätten.

Sihlverlegung

Schon 1899 propagierte dann der aus St. Gallen stammende Ingenieur Hermann Sommer eine Sihlverlegung von der Brunau nach Altstetten, damit für den damals recht hohen Betrag von rund 37 Millionen Franken ein neuer Durchgangsbahnhof im alten Sihllauf Platz hätte finden können. Die rechtsufrige Zürichseelinie, die Sihltal- und die Uetlibergbahn wären direkt in den Hauptbahnhof eingeführt worden – eine Idee, die erst 90 Jahre später Wirklichkeit wurde. Er hatte mit seiner Vision noch weniger Glück als Heinrich Ernst, denn die NOB wollte 1899, kurz vor der sich abzeichnenden Verstaatlichung, keine Grossprojekte mehr finanzieren.
Doch unbeeindruckt von den Aktivitäten in den verschiedenen Architektur- und Ingenieursbüros entwickelte sich das Bahnnetz rund um Zürich: Seit 1897 ermöglichte die neu eröffnete Verbindungslinie Thalwil–Zug der NOB, dass die Züge nach Luzern und dem Gotthard die kürzere Route via Thalwil statt wie bis anhin durchs Säuliamt einschlagen konnten. Immerhin wurden 1897 für den Güterverkehr eigene Bahnhofsanlagen an der Hohlstrasse eingerichtet und gleichzeitig der bisherige Niveauübergang an der Langstrasse beseitigt.

Umbau nach den braven Plänen der NOB

Der Umbau des Hauptbahnhofs erfolgte in den Jahren 1897 bis 1902 brav nach den weniger hochfliegenden Plänen der Nordostbahn: Zuerst wurden vier neue Gleise nördlich der bestehenden Bahnhalle, auf der Seite des eben fertig gestellten Landesmuseums, gebaut. Um die Stadtkreise 4 und 5 zu verbinden, schwang sich ein Fussgängersteg über die Geleise. Dann wurden in der grossen Bahnhofshalle die dortigen sechs Geleise so zurechtgestutzt, das die Prellböcke auf die Höhe des Haupteinganges Bahnhofstrasse zu liegen kamen. Dafür wurden die nun teilweise ins Freie verlegten Perrons mit Dächern überdeckt. Doch Gepäck- und Diensträume nahmen den so gewonnenen Raum in der hinteren Bahnhofshalle sogleich wieder in Beschlag – es schien ein richtiggehender «Horror vacui» zu herrschen, der offenbar noch heute nachzuwirken pflegt: Offenbar haben manche Leute eine derartige Scheu vor einer leeren Halle, dass flugs Verkaufsstände, Reklamen oder fliegende Kühe zum «Füllen» herangeschleppt werden. Dabei ist heute die leere Bahnhofshalle ein höchst erhebender Anblick!

Separate Billettschalter für die noblere Kundschaft

Ebenfalls fand die Bahnpost in der Nordostecke des Bahnhofs Platz. In einem nordöstlichen Anbau wurden ein Restaurant «III. Klasse» und ein Wartsaal, ebenfalls für die Passagiere der damaligen Holzklasse, eingerichtet. Selbst eine Billettkasse III. Klasse befand sich in dieser Ecke des Bahnhofs; die Fahrgäste der ersten und zweiten Wagenklasse konnten hingegen auf der Stadtseite (wo sich auch die nobleren Restaurants befanden) ihre Billette kaufen. Zwar mutet der Gedanke heute eher abwegig an, dass je nach Wagenklasse getrennte Billettschalter eingerichtet wurden – und doch sei an jenen «VIP-Schalter» im Bahnhofsprovisorium der Neunzigerjahre erinnert, wo exklusiv nur Erstklasskunden empfangen wurden.

Abstimmung führte zur Bildung der SBB

Die Überhitzung des Eisenbahnfiebers führte zu zahlreichen Spekulationen, Konkursen und Streiks. Mit einer Volksabstimmung wurde am 20. Januar 1898 der Grundstein für die Bildung der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) gelegt: die grösseren Privatbahnen kamen somit ab 1902 unter eine einheitliche Verwaltung. Auch der Zürcher Bahnhof wechselte damit auf den 1. Januar 1902 die Hand.
1904 konnte ein elftes Perrongleis in den Bahnhof hineingezwängt werden. Da die Zahl der abgefertigten Züge bis 1915 auf rund 410 pro Tag stieg, erstaunt es nicht, wenn Pläne für eine Erweiterung auf 14 Gleise gewälzt wurden.

Prominente Besucher im Zürcher Hauptbahnhof

Prominente Besucher reisten per Bahn an oder auch ab: Schon im letzten Jahrhundert hatte die reiselustige Bernburgerin Helena Thormann in ihrem handschriftlichen «Reise-Journal» am 17. Juli 1874 vermerkt, dass sich Graf Moltke im Eisenbahnzug von Luzern nach Zürich befunden habe. «Und als ich in Zürich ins Bahnhofbuffet 2. Cl. Ging, sah ich wirklich Graf Moltke am Tisch sitzen u. sich gemütlich thun. Er glich ganz den gewöhnlichen Photographien, nur schien er mir noch hellere blaue stechende Augen zu haben. Das Haar war halb blond, halb grau (Moltke war damals 74 Jahre alt!), man konnte es nicht genau unterscheiden, entweder ganz hellblond oder aschgrau.»
Der deutsche Kaiser Wilhelm II traf 1912 in Zürich ein und inspizierte das Schweizer Militär, um sich ein Bild der Schweizer Stellungen in einem kommenden Krieg zu bilden. Und 1917 reiste Lenin in einem plombierten Wagen von Zürich aus nach Russland, um der dortigen Revolution zum Durchbruch zu verhelfen. Er hatte vom 21. Februar 1916 bis am 2. April 1917 in einer Wohnung an der Spiegelgasse 14 gehaust.


Der Hauptbahnhof rüstet sich für die Landi

In den Jahren 1918 bis 1927 erfolgte die Untertagleitung der linksufrigen Seebahn; dank dem Bau der Enge- und Ulmbergtunnel konnten zahlreiche Barrierenübergänge aufgehoben werden.
Neu gebaut wurden in diesem Zusammenhang der Reiterbahnhof Wiedikon und der Bahnhof Enge mit seinem imposanten Aufnahmegebäude aus Verzasca-Granit.
Der 1915 bist 1918 unter Leitung der städtischen Bauverwaltung durchgeführte internationale Wettbewerb für einen Bebauungsplan der Stadt Zürich und ihrer Vororte prüfte auch die Frage einer Bahnhofserweiterung damals europaweit ein aktuelles Thema. Eine vom Züricher Regierungs- und Stadtrat eingesetzte Expertenkommission mit Professor W. Cauer aus Berlin, Dr. C.O. Gleim aus Hamburg sowie dem Zürcher Architekten und ETH-Professor Karl Moser (1860–1936) begutachtete ein Umbauprojekt der SBB von 1916 und erhielten es verkehrstechnisch wie städtebaulich für ungenügend. Fachleute legten nun eigene Entwürfe vor, denn sie waren sich inzwischen einig, dass Zürich, weniger des internationalen als vielmehr des rasch wachsenden Agglomerationsverkehrs wegen, eines leistungsfähigen Durchgangsbahnhofs bedurfte. Zwischen dieser Erkenntnis und der Eröffnung der S-Bahn verstrichen dann aber rund siebzig Jahre. Cauer und Gleim wollten im ersten Projekt den Standort des Hauptbahnhofs nicht verändern, die Geleise aber durch die Stirnwand des Kopfbahnhofs hindurch über die Limmat weiterführen. Eine Variante mit einer Verlegung des Bahnhofs an die Langstrasse wurde als im wörtlichen Sinn «abwegig» fallen gelassen. Grosse Beachtung fanden die Vorschläge der Professoren Richard Petersen aus Danzig und Gustav Gull von der ETH in Zürich, weil vor allem Gull den Grundgedanken Hermann Sommers aus der Jahrhundertwende wieder aufnahm, die Geleiseanlagen ins trocken gelegte Sihlbett zu versenken.

Die SBB planten schon 1916 zwei «Nebenwil»-Bahnhöfe

Karl Moser ist nicht zuletzt wegen seiner radikalen städtebaulichen Visionen bekannt. Der erste Entwurf hätte Aussersihl in einen schicken Stadtteil verwandelt und den neuen, quer liegenden Bahnhof an der Langstrasse zwar ziemlich weit vom Limmatufer entfernt, aber durch eine Prachtallee im Pariser Stil mit dem Stadtzentrum verbunden. Der Plan wurde aber abgelehnt, und Moser erarbeitete weitere Bebauungsplan- und Bahnhofsentwürfe für den alten Standort. Ein Entwurf für einen Durchgangsbahnhof sah eine zangenartig geöffnete Halle mit durchbrochener östlicher Stirnwand an der Stelle des heutigen Bahnhofs vor. Die insgesamt 16 Geleise wären, auf 5 zusammengedrängt, über die Limmat hinweg beim heutigen Central in den Berg geführt worden.
Besonders bemerkenswert sind heute jene Pläne der SBB von 1916, welche die Perronanlagen beidseits durch besondere, zurückgestaffelte Vorortsperrons nach Vorbild des Münchner Hauptbahnhofs ergänzen wollten – «Nebenwil»-Bahnhöfe haben also eine lange Vergangenheit!
Doch die nächste Erweiterung des Hauptbahnhofs erfolgte auf ganz andere Art: Mit der Elektrifizierung der Bahnlinie nach Thalwil–Zug 1923 wurden auch die Geleise des Züricher HB mit dem elektrischen Fahrdraht überspannt. Allerdings waren noch bis in die Sechzigerjahre vereinzelt Dampflokomotiven im Bahnhof anzutreffen, besonders für Güterzüge.


10 Elektrische und Dampftraktion friedlich vereint: 1923 wurden die Geleise des Hauptbahnhofs mit dem Fahrdraht überspannt, doch waren noch längere Zeit Dampflokomotiven in der Bahnhofshalle anzutreffen.

Die Landi bringt Schwung


11 Umbauarbeiten am HB um 1930: Zwei der neun Bögen der alten Bahnhofhalle müssen weichen. Das «Pensionierten-Kino» funktionierte bereits, den zahlreiche Schaulustige bevölkerten die Baustelle.

Einen mächtigen Impuls für die immer wieder aufgeschobene Bahnhofserweiterung bildete die Absicht, 1939 in Zürich wieder eine Landesausstellung durchzuführen. Noch gab es keine Diskussionen darüber, wie man die Besucherinnen und Besucher sanft auf die Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel lenken könne; die Eisenbahn war damals das vorherrschende Verkehrsmittel. Um für dieses nationale Ereignis gewappnet zu sein, wurde der Bahnhof in den Jahren 1929 bis 1933 grundlegend umgebaut. Es entstand die lediglich als Provisorium gedachte Querhalle, die von der Löwenstrasse hinüber zum Landesmuseum führt. Dabei mussten die zwei markanten Wannerschen Türme weichen. Ebenso wurden zwei der neun Bögen der Bahnhofshalle abgebrochen. Mit 5 neuen Perrongeleisen war man beim bisher nie mehr überschrittenen Maximum von 16 Hallengeleisen angelangt (die damaligen Geleise 9 und 16 waren allerdings nur beschränkt benützbar). Die geschwungenen Eisenträgerdächer erlaubten es den Reisenden, die Züge auch bei Regenwetter weitgehend geschützt zu erreichen.


12 Die überdachten Perrons wurden von den Fahrgästen mit Begeisterung in Beschlag genommen. Links ist ein blau-weiss gestrichenes Fahrzeug des «Arbeiterpullmann» zu erkennen.

Das 1927 bis 1930 erstellte neue Sihlpostgebäude nahm ebenfalls die Büros der SBB-Kreisdirektion auf. Dadurch entstand im ersten Stock des Bahnhofgebäudes Platz für die Erweiterung der Restaurationsräume.

Eine «Seufzerbrücke» quer über die Geleise

Bis 1936 mussten die Weichen im Bahnhof von Hand umgestellt werden. Erst dann stand ein elektromechanisches Befehlsstellwerk auf einer Querbrücke über den Geleisen des Vorbahnhofs zur Verfügung. Da in den ersten Tagen gewisse Kinderkrankheiten die Bedienung der 440 täglichen Ein- und Ausfahrten behinderte, wurde die Stellwerkbrücke flugs in «Seufzerbrücke» umgetauft.
Aber 1939 war alles bereit: Die Gäste der Landesausstellung nahmen stolz Beschlag vom erweiterten Bahnhof. Doch der ausbrechende Zweite Weltkrieg liess die Zuschauermassen brüsk versiegen; nun beherrschten plötzlich einrückende Wehrmänner das Bild des Bahnhofs. Während einem Vierteljahrhundert erfolgten keine nennenswerten Ausbauten mehr.
Kaum war die Zeit des Zweiten Weltkriegs überstanden, wurde der «Arbeitsausschuss für die Zürcher Eisenbahnfragen» mit Vertretern von SBB, PTT, Kanton und Stadt ins Leben gerufen, der die Erweiterungsvorschläge der SBB zu prüfen und zu bereinigen hatte. Das während all diesen Verhandlungen entstandene generelle sogenannte «Projekt 1946» wurde zunächst vom Verwaltungsrat der SBB behandelt und dann an die kantonalen und städtischen Instanzen zur Stellungnahme übermittelt; diese erteilten Ende Januar 1948 ihre Zustimmung. Inzwischen war die tägliche Zugzahl von 306 im Jahre 1925 auf respektable 530 im Jahre 1947 angestiegen – eine Erweiterung drängte sich erneut auf.
Mit einer Verlegung des Rangierbahnhofs aus dem Stadtgebiet in das freie Feld zwischen Dietikon und Killwangen wollte man mehr Platz für Abstell- und Waschanlagen für die Reisezugwagen schaffen. Dabei waren als neue Zufahrten die Verbindungsschlaufen Oerlikon-Altstetten und Würenlos-Killwangen nötig. Auch die am 1. Juni 1975 in Betrieb genommene, sonst dem Reiseverkehr dienende Heitersberglinie hilft mit, Ordnung in den Güterverkehr zu bringen.

Das gemütliche «Bahnhofstübli»

Nun sein noch eine kleine Ode an die Bahnhofhilfe angestimmt, die in meinem Leben wohl eine ganz entscheidende Rolle gespielt hat. Auch wenn allein reisende junge Damen nicht mehr vor den Gefahren es internationalen Mädchenhandels zu schützen waren, stand auch im Zürcher Hauptbahnhof die Bahnhofhilfe im Einsatz, und zwar zunehmend für allein reisende Behinderte und sprachunkundige Reisende. Da eine meiner Tanten jahrelang in der Bahnhofhilfe tätig war, kam dies meiner Zuneigung zum Eisenbahnbetrieb sehr entgegen: Manch freien Nachmittag verlebte ich in den heiligen Bahnhofshallen, um dazwischen auch noch im zwar sehr engen, aber ums so gemütlicheren «Bahnhofsstübli» zu erfahren, welche heiklen Fälle Tante Ruth wieder zu lösen hatte.
Noch sehr gut zu erinnern vermag sich der Schreibende an den 1. Juni 1961. Mit grossflächigen Zeitungsinseraten verkündeten die SBB, dass an diesem Tag der erste elektrisch angetriebene Trans-Europ-Express (TEE) von Zürich nach Mailand verkehre. Da ich damals das Literargymnasium Zürichberg besuchte und für diesen Samstagmorgen eine Doppellektion Zeichnen auf dem Stundenplan stand, war guter Rat teuer. Aber Zeichenlehrer Aerni hatte in Einsehen: Er entliess mich für diese Zeit in den Bahnhof, allerdings unter der Bedingung, eine Skizze der Eröffnungsfeierlichkeiten zu erstellen (was ich dann auch getreulich tat).


Der HB wird aufs S-Bahn-Zeitalter getrimmt

Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sind durch Ideen geprägt, dass die Zeit der Eisenbahnen bald abgelaufen sei. Jedermann könne sich nun ein Auto leisten, und für ganz Pressante stünden bald persönliche Mini-Helikopter zur Fortbewegung zur Verfügung. So kommt es, dass der Elan zum Ausbau des Bahnnetzes etwas erlahmt.
Erst das von Architekt Max Vogt geplante und 1966 in Betrieb genommene Zentralstellwerkgebäude mit seinen charakteristischen Ausmassen (26 m hoch, 40 m lang aber nur 7 m breit) prägt das Bild der modernen Eisenbahn.


Links: 13 Ruhe vor dem Sturm: Blick auf die Geleiseanlagen das Hauptbahnhofs Zürich vor den Ausbauarbeiten für die S-Bahn. Rechts: 14 «Zureich» statt «Zürich» wurde den eintreffenden Reisenden vom nahen Wohlgrot-Areal her anno 1993 verkündet.

Fussgänger auf dem Bahnhofplatz in den Untergrund verwiesen

Übel wird dann mit den Fussgängern auf dem Bahnhofplatz verfahren: Um den Automobilisten mehr Platz zu verschaffen, werden die Fussgänger kurzerhand in den Untergrund verwiesen, wo 1967 das erste Shop-Ville entsteht. Die Idee der Nutzungs- und Funktionsmischung ist allerdings uralt: Schon im Jahr 1838 war der Bahnhof am Endpunkt der ersten Eisenbahn von St. Petersburg nach Pawslowk mehrfach nutzbar als Tanzsaal, überdeckte Gastwirtschaft und sogar als Kasino. Um am Berlinger Alexanderplatz entstand anno 1886 eine Kombination von Zentralmarkthalle (mit direkter Warenanlieferung vom Güterbahnhof her durch hydraulische Aufzüge) und Bahnhof.

Ideenwettbewerb und Projekte für einen Bahnhof-Neubau

Auch dem altehrwürdigen Bahnhofsgebäude soll es an den Kragen gehen, da seine Form nicht mehr in die schnelllebige neue Zeit zu passen scheint. So schreibt die Behördendelegation für den Regionalverkehr Zürich 1969 einen Ideenwettbewerb für den Totalneubau des Bahnhofgebäudes und die städtebauliche Gestaltung seiner Umgebung aus. Innert Jahresfrist treffen insgesamt 57 Entwürfe ein, die von einem Preisrichter beurteilt werden. Das mit dem ersten Preis ausgezeichnete Projekt vom Architekt Max Ziegler sieht einen Neubau für das Aufnahmegebäude am bisherigen Standort vor, der durch ein Hotelhochhaus akzentuiert werden soll; westlich der Sihl sind ein Bürohochhaus und Parkhäuser geplant.
Aber auch gegenläufige Tendenzen melde sich zu Wort, und die Eidgenossenschaft bringt es 1976 zustande, die Wannersche Bahnhofshalle zu einem Baudenkmal von nationaler Bedeutung zu erklären. An einen Abbruch ist somit nicht mehr zu denken; vielmehr wird die alte Bausubstanz sorgfältig restauriert. Neue Bauten sind nur noch unter dem Boden oder auf den nicht überdeckten Geleisen möglich.

Die Idee einer U-Bahn wird 1973 begraben

Am 20 Mai 1973 erleidet eine erste kombinierte U- und S-Bahn-Vorlage Schiffbruch in der Volksabstimmung. Vor allem die von Dietikon über den Hauptbahnhof nach Oerlikon–Flughafen geplante U-Bahn stösst auf vehemente Ablehnung.
Am 29. November 1981 schafft dann die S-Bahn Zürich die Hürde der Volksabstimmung mit einer Ja-Mehrheit von 75 Prozent. Bereits zwei Jahre nach dem Ja der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger fahren im März 1983 die Baumaschinen auf. Das ganze Bahnhofsgebiet wird sozusagen auf den Kopf gestellt, während der normale Bahnbetrieb sichergestellt bleiben muss. Von den Reisenden wird viel Anpassungsvermögen gefordert, doch im Hinblick auf kommende Verbesserungen werden immer wieder neue Umwege, provisorische Perrons, Baracken für die Billettschalter sowie vorübergehender Ersatz von Zügen durch Autobusse in Kauf genommen. Während für die S-Bahn vier neue unterirdische Geleise auf der Seite des Landesmuseums gebaut werden, kann für die verlängerte Sihltal- und Uetlibergbahn unter dem Shop-Ville Platz geschaffen werden.

Taktfahrplan: Die «Zürcher Spinne» entsteht

1982 wird gesamtschweizerisch der Taktfahrplan eingeführt. Im Zürcher Hauptbahnhof treffen nun jeweils kurz vor dem Stundenschlag die Schnellzüge aus allen Richtungen ein, damit die Reisenden auf andere, kurz nachher wegfahrende Schnellzüge umsteigen können; die «Zürcher Spinne» ist entstanden.
Damit die unterirdische Bahnhofsanlage für die S-Bahn unter der Museumstrasse gebaut werden kann, müssen die Hallengeleise 14 bis 15 währende der Jahre 1983 bis 1985 ausser Betrieb genommen werden. Als provisorischer Ersatz entstehen die Geleise 17 und 18, welche wegen ihrer Lage ausserhalb der Perronüberdachung bald den Übernamen «Nebenwil» erhalten.
Mit dem Versprechen, ihn originalgetreu wieder aufzubauen, lassen die SBB den 1901 errichteten Nordtrakte 1984 samt der legendären «Küechliwirtschaft» Stein für Stein demontieren und in Zürich-Affoltern in einem Magazin einlagern. Zwei Jahre später präsentierten sie aber ein Neubauprojekt für den Nordtrakt. Ab 1987 werden die bisherigen Einbauten wie Kino, Auskunfts- und Gepackräume aus der Bahnhofhalle entfernt; zum Abschluss gibt’s ein Bahnhofsfest.

Umsteigen erleichtert

Inzwischen werden gläserne Gepäcklift-Kabinen an den Perroneingängen erstellt. Auf separate Dienst- und Gepäckperrons wird nun verzichtet. Ein unterirdisches Gepäck-Sortierzentrum sorgt für eine rasche und reibungslose Weiterleitung aller Gepäckstücke, welche in Zürich «umsteigen» müssen oder hier aufgegeben und abgeholt werden. 1988 kann hier die neue Anlage mit dem sogenannten, vom Flugverkehrt her bekannten Race-Tracking in Betrieb genommen werden. Ungefähr in Perronmitte werden auf knappstem Raum die eisernen Sihlbrücken, die zum grössten Teil aus der Mitte des letzten Jahrhunderts stammen, ausgewechselt.
Die Personenunterführung West wird verbreitert und mit je zwei direkten Zugängen zu jedem Perron versehen; das Umsteigen für die Zweitklass-Reisenden wird damit stark erleichtert.

Die S-Bahn Zürich startet am 27. Mai 1990

1989 erfolgt ein erster Lichtblick: Auf den neuen unterirdischen Geleisen 21 und 22 können die Züge durch den neuen Hirschengrabentunnel Richtung Stadelhofen–Meilen–Rapperswil losfahren; die Strecke über den Bahnhof Letten wird nun aufgehoben. Auch die Züge nach Bülach wechseln in den Untergrund. Am 27. Mai 1990 startet die S-Bahn Zürich im Vollausbau. Auch hinter den Kulissen ist hart gearbeitet worden: In einem neuen Betongebäude an der Langstrasse ist seit 1967 die Zug- und Lokleitung sowie die Zugüberwachung installiert; seit 1990 gewährleistet hier eine Betriebsleitzentrale die Überwachung des gesamten Zugsverkehrs der Ostschweiz. So kann bei Störungen wirkungsvoll eingegriffen werden. Die Disponentinnen und Disponenten werden dank Computerunterstützung rechtzeitig auf Ausnahmefälle aufmerksam gemacht, damit die nötigen Dispositionen samt Information der Reisenden erfolgen können.


15 Die doppelstöckige S-Bahn-Kompositionen geniessen vorläufig auch noch in der oberirdischen Bahnhofhalle Gastrecht, doch dürfen die Tage dafür gezählt sein – die «Bahn 2000» verlangt gebieterisch mehr Platz.

Gewagte Perrondächer als «Gesicht» zur Stadt

Besonders heikle Probleme bieten die Ränder des Geleisebereichs als Übergang und «Gesicht+ zur Stadt. So laden die SBB 1995 verschiedene Teams ein. Vorschläge für die seitlichen Ergänzungen der Perronhalle für die Geleise ¾ und 17/18 einzureichen. Entstanden sind beidseitig der bestehenden Perrondächer über den Zügen schwebende Hohlkörper, die für die Wartung innen begehbar sind. Sie kragen in den Strassenraum aus und signalisieren zwischen schräg gestellten Betonstützen monumentele Weite. Ein Detail, das den Reisenden kaum auffällt: Im Boden versenkbare Nachtabschlüsse ermöglichen die Schliessung des Bahnhofs.

Rund 20 Bauprojekte

Rechtzeitig auf das Jubiläum «150 Jahre Schweizer Bahnen» können 1997 die umfangreichen Erweiterungsbauten fertig gestellt werden. Doch laufen bereits die Planungsarbeiten für die nächsten Ausbauschritte an. Für den bedeutendsten Knotenpunkt im Netz Bahn 2000 sind im Raum Zürich rund 20 grössere und kleinere Bauprojekte vorgesehen. Damit sollen die für Bahn 2000 benötigten Kapazitäten sichergestellt werden. Die Zahl der Züge soll von 1480 auf 1730 im Jahr 2005 steigen.
Man sieht: Der Zürcher Hauptbahnhof scheint auch nach über 150 Jahren seines Bestehens immer noch nicht fertig gebaut zu sein.


16 Obwohl die «Graue Maus» ab Zürich nicht mehr fahrplanmässig eingesetzt wurde, traf bis Ende November 1999 jeden Montagmittag von Bern her eine solche ehemalige Tee-Komposition in der Bahnhofhalle ein, damit im Depot die erforderlichen Wartungsarbeiten vorgenommen werden konnten.


Quellen

Infothek SBB, Bern
Bundesarchiv, Bern
Landesbibliothek, Bern

Bildnachweis

Header Bild: Bereits 1860 beschloss die NOB-Direktion, für den zu klein gewordenen Zürcher Bahnhof von 1847 einen Ideenwettbewerb für eine neue Anlage auszuschreiben. Im Spätherbst 1867 stand das von Architekt Jakob Friedrich Wanner entworfene Projekt mitten im Bau. Die meisten eisernen Dachträger der imposanten Hallenkonstruktion sind montiert, aber immer noch erhebt sich das Relikt aus früheren Zeiten ein hölzerner Perron. Der neue Bahnhof konnte am 15. Oktober 1871 eröffnet werden. (Zentralbibliothek Zürich)
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13 Foto-Service SBB, Bern
14 Rolf Hürlimann, Liebefeld
15 Rolf Hürlimann, Liebefeld
16 Rolf Hürlimann, Liebefeld



Abkürzungen

BKW Baukultur Wädenswil
DOZ Dokumentationsstelle Oberer Zürichsee, Wädenswil
LZB Verein «150 Jahre linksufrige Zürichseebahn», Wädenswil

Weitere Artikel Baugeschichte & Jubiläen

GESCHÄFTSBERICHT DER SCHWEIZERISCHEN NORDOSTBAHN 1875
Quelle: Ortsmuseum Sust; Horgen, S. 73-88

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER EISENBAHN
Quelle: Wädenswil Zweiter Band, 1972, von Peter Ziegler, S. 133-140

LINKSUFRIGE ZÜRICHSEE-BAHN - AUS DEN ANNALEN DER LINKSUFRIGEN
Quelle: Werner Neuhaus, Separatdruck «Zürichsee-Zeitung» Th. Gut+Co. Verlag, 8712 Stäfa

ALS DIE EISENBAHN KAM
Quelle: Text zur Sonderausstellung im Ortsmuseum Sust von Christina Kovarik, Zürich & Robert Urscheler, Horgen

EISENBAHN: DIE «LINKSUFRIGE»
Quelle: Aus der Richterswiler Verkehrsgeschichte von Richterswil V 1977 von Adolf Attinger, S. 70-81

VON DER WÄDENSWIL–EINSIEDELN-BAHN ZUR SÜDOSTBAHN
Quelle: Wädenswil Zweiter Band, 1972 von Peter Ziegler, S. 141-150

AUS DEN ANNALEN DER SÜDOSTBAHN
Quelle: Werner Neuhaus, Separatdruck «Zürichsee-Zeitung», 1987, Th. Gut+Co. Verlag, 8712 Stäfa, zusätzliche Bilder LZB

DAS «PARADESTÜCK DER SCHWEIZERBAHNEN» IST HUNDERT JAHRE ALT GEWORDEN
Quelle: Thalwiler Anzeiger, September 1975, aus Sammlung Ortsmuseum Richterswil, zusätzliche Bilder LZB

100 JAHRE EISENBAHNLINIE ZÜRICH–RICHTERSWIL
Quelle: Grenzpost, September 1975, Ziegler Peter aus Sammlung Ortsmuseum Richterswil

HUNDERT JAHRE WÄDENSWIL–EINSIEDELN-BAHN
Quelle: Jahrbuch der Stadt Wädenswil 1977 von Peter Ziegler, S. 53-59